Halle

Alle Hintergründe und Infos zum Attentat von Halle

Radio Brocken blickt detailliert auf die Ereignisse vom 9. Oktober 2019.

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Wenn der Attentäter am Landgericht Magdeburg der Prozess gemacht wird, ist es genau neun Monate und zwölf Tage her, dass zwei Menschen in Halle ihr Leben verloren haben und eine ganze Stadt den Atem angehalten hat.

Die Tat

Der 9. Oktober 2019 ist ein sonniger Herbsttag in Halle. Es ist viel los in der Innenstadt, auch Jana L. Ist mit der Straßenbahn unterwegs. Haltestelle Wasserturm, hier muss sie raus und will durchs Paulusviertel im Zentrum von Halle, in ihre Einraumwohnung. Als sie aus der Bahn steigt, ist der Attentäter bereits einige Minuten direkt vor der Jüdischen Synagoge im Paulusviertel. Zeugen werden später sagen, sie haben dumpfe Explosionen gehört. Eine Fehlzündung oder explodierende Silvesterböller, beschreiben diese die Geräusche. Der hagere Mann in Militäruniform, mit Helm und olivgrüner Jacke legt selbstgebaute Granaten an die Eingangstür des jüdischen Friedhofs Sie explodiert, aber das Tor bleibt verschlossen. Jana L. biegt um 12.02 Uhr in die Humboldtstraße ein und sieht den Mann, wie er wie er schnell von der Eingangstür wegläuft. Danach ein Knall. Jana L. wird wohl denken, ein Streich mit einem Silvesterböller und spricht ihn an: „Muss das sein, wenn ich hier gerade lang gehe?“. Es werden die letzten Worte im Leben der 40-Jährigen sein. Kaltblütig wird die Hallenserin das erste Opfer des Mannes, der später als der Attentäter von Halle weltweit Schlagzeilen macht.

Erst schießt er ihr mit vier Schüssen aus seinem selbstgebauten Maschinengewehr in den Rücken. Sie bleibt neben der Tür seines geparkten Wagens liegen. Der Attentäter dreht sich sofort um und geht zurück zum Friedhofstor. Dabei prüft er seine Waffe. „Klemmt,“ hört man ihn sagen. Und: Die Sprengladung hat ihre Wirkung verfehlt. „Verkackt, komme ich nicht rein,“ sagt er im Livestream, in dem neun Personen seine Tat im Internet verfolgen. Aus Frust über sein Versagen, geht er zurück zu seinem Wagen und schießt er noch einmal einen Feuerstoß auf die am Boden liegende Jana L. Dutzende Projektile und das grausame Bild, das sich den Gerichtsmedizinern später bieten wird, lassen keinen Zweifel: Die lebenslustige Frau war sofort tot. Ein Streifschuss wird auch den Reifen des geliehenen grauen Golf des Täters treffen.

Zeitgleich in der Synagoge: 52 Besucher des Jom Kippur-Festes der Jüdischen Gemeinde in Halle ahnen zunächst nichts. Max Privorozki. Vorstand der jüdischen Gemeinde in Halle erzählt: „Es wurde laut gesunden und aus der Tora vorgelesen. Zunächst hat nur unser Wachmann etwas von den Geschehnissen mitbekommen und mich an die Überwachungskameras geholt.“ Privorezki wählt den Notruf 112, während er über die Videokameras beobachten muss, was sich vor den Toren abspielt. Die Ausmaße der Tat sind ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, wird er später sagen.

Der Attentäter ist frustriert. Laut ist zu hören wie die Luft aus seinem Reifen entweicht. „Ich habe meinen eigenen Reifen zerschossen, fuck“, sagt er im Livestream. An der Synagoge vorbei versucht er über den Hof des Nachbarhauses sich zutritt zu verschaffen. Erfolglos. Mit den Worten: „Jetzt zünden wir sie an!“ geht er zurück zu seinem Auto. Ein weißer VW Caddy steht nun neben seinem grauen Golf, den er extra für diesen Tag geliehen hat. Der Fahrer steht neben der Leiche von Jana und ruft: „Was solln das?“ Der Attentäter zieht seine Waffe. Ladehemmung. Der Fahrer flüchtet in sein Auto und fährt los. Für den Attentäter geht nun wenige Meter zum Haupteingang der Synagoge. Die schwere braune Holztür soll das Symbol seines gescheiterten Anschlags auf die jüdische Gemeinde werden. Er schießt mit seiner selbstgebauten Waffe drei Mal auf die Tür, dann tritt er dagegen. „Scheisse man,“ hört man ihm in Internetstream seiner Tat fluchen. Seit fast 12 Minuten können Zuschauer weltweit auf der Internetseite Twitch verfolgen. Neun Menschen sehen es sich live an. Das Video wird später gelöscht. Die Einschüsse sind noch zum Prozessbeginn neun Monate später zu sehen.

Augenzeugen von der Synagoge
17.07.2020
Augenzeugen von der Synagoge
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Der Attentäter geht zurück zu seinem Auto. Auf dem Weg dahin, schießt er noch auf einem vorbeifahrenden PKW. Der Fahrer hupt und fährt weiter, während der Attentäter brutal die Fahrertür seines Wagens aufreißt und gegen die Leiche von Jana B. schlägt. Er wirft seine Waffe in das Auto und läuft um den Wagen herum, um aus dem Font selbstgestellte Molotowcocktails zu holen. Die in silbernem Panzertape eingewickelten Flaschen nimmt er in die Hand. Dann hört man das klicken seines Feuerzeugs und ein klirren auf der anderen Seite der Mauer. Max Privorozki erzählt: „Wir haben die Flaschen im Hof gefunden. Zum Glück sind sie nicht explodiert oder haben einen Brand ausgelöst.“ Der Täter wird es im Video mit „Verkackt! Was will man von einem Noob erwarten,“ kommentieren. Unter Computerspielern werden so Anfänger bezeichnet die das Spiel nicht beherrschen. Der Attentäter schlägt abermals die Tür gegen den leblosen Körper von Jana B., als er in sein Auto steigt. Mit quietschenden Reifen macht er sich auf den Weg zur Ludwig-Wucherer Straße. Er hält and er Kreuzung mit Blick auf den Kiez-Döner-Imbiss: „Döner, nehmen wir!“

Er hat seinen Plan aufgegeben. Im Internet werden nur wenige Stunden später Dokumente zu finden sein, die beweisen: Dieser Tag war von langer Hand geplant. „Der beste Aktionstag sollte Jom Kippur sein, denn auch „nicht-Religiöse“ Juden besuchen an diesem Tag oft die Synagoge. […| wenn ich kein Glück habe und sie eine Tür offen haben, muss ich einen Weg erzwingen oder die Ratten herauslocken.“, schreibt der Attentäter in seinem „Manifest“. Er ist gescheitert mit diesem Plan. In der Ludwig-Wucherer-Straße werden nun weitere Menschen Opfer seiner wahllosen Angriffe. Mitten an einer stark befahrenen Straße, mit vielen Passanten, Anwohnern und späteren Augenzeugen.

Sieben Minuten, nachdem Jana L. ihr Leben verlor, wirft der Attentäter wieder einen Sprengsatz gegen ein Ziel. Er verfehlt die Eingangstür des Imbisses, der Sprengsatz landet auf der Straße. Der Attentäter schießt gegen die Scheibe und macht sich auf den Weg in den Laden. Die Ladenbetreiber können sich in Sicherheit bringen, genau wie zwei weitere Gäste. Nicht jedoch Kevin S.: Der Attentäter zielt auf ihn, drückt ab: Die Waffe versagt. Kevin flüchtet mit einem Gast hinter zwei Kühlschränke, der Attentäter hinterher: Der Gast bettelt und weint um sein Leben. „Ich habe Kinder, bitte nicht.“ Das alles streamt der Täter live ins Internet. „Fresse man,“ sagt der Attentäter genervt und zielt wischen die Kühlschränke. Kaltblütig drückt der Attentäter ab. Kevin wird dabei verletzt, lebt aber noch. Das Magazin seiner selbstgebauten Maschinenpistole scheint zu klemmen. Es liegt auf dem Boden, er hebt es wieder auf. Danach verlässt der Attentäter den Laden und geht zurück zu seinem PKW um die zweite Waffe zu holen. Ein Passant geht vorbei. Wieder hat eine Waffe Ladehemmung. Erst als der Passant losläuft, löst sich ein Schuss. Die Einschusslöcher wird man noch lange an der Hofeinfahrt neben dem Kiez-Döner sehen können.

Der Täter steigt in seinen Wagen, und beschwert sich lauthals über das Versagen seines Maschinengewehrs: „The Fucking Luty is shit“ und fährt mit dem Auto quer über die Ludwig-Wucherer-Straße direkt vor den Kiez-Döner. Beim Aussteigen sieht er zwei Passanten und läuft ihnen hinterher. Ein Schuss verfehlt die Opfer seiner Attacke. Ein weiterer geht ins Leere. Schwer atmend vom kurzen springt, geht er zielstrebig zurück zum Imbiss. Kevin S. liegt über Getränkekisten gebeugt hinter dem Kühlschränken. Der Attentäter schießt. Kevin stöhnt noch einmal auf „Der lebt doch immer noch“. Um 12.15 Uhr tötet er den begeisterten HFC-Fan Kevin mit einem weiteren Schuss.

Augenzeugen vom Döner-Imbiss
17.07.2020
Augenzeugen vom Döner-Imbiss
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Schon um 12.03 Uhr wird in der Synagoge der Notruf 112 gewählt. Um 12.15 Uhr wird einer der größten Polizeieinsätze ausgelöst, die Halle je gesehen hat. Spezialeinsatzkommando, Magdeburg, Leipzig, Halle: Jeder verfügbare Polizist wird in die Stadt beordert. Der Attentäter ist wieder im Auto. „Ich habe auf jeden Fall bewiesen, wie wertlos improvisierte Waffen sind“ spricht er in seiner Live-Übertragung ins Internet. „Die Polizei, jetzt wird’s gefährlich,“ hört man als nächstes. Er fährt ein kleines Stück, hält wieder an und begibt sich hinter seinen Golf. Mehrfach schießt er in Richtung des quer zu Straße abgestellten Streifenwagens. Dann eröffnet ein Beamter das Feuer. Um 12.16 Uhr wird der Attentäter am Hals getroffen und flieht. Noch wenige Minuten überträgt er seine Tat im Internet. Im Radio läuft ein Beitrag über illegalen Waffenhandel, während der Attentäter feststellt, dass er am Hals getroffen ist. „Ich blute, aber es tut gar nicht so sehr weh. Wahrscheinlich das Adrenalin.“ Endstation Halle Hauptbahnhof. Hier hört und sieht man den Attentäter zum letzten Mal: „So Guys, das wars. Ich werde das Smartphone entsorgen,“ sind die letzten Sätze auf Deutsch und Englisch im Livestream. Dann fliegt es aus dem Fenster, er selbst flüchtet Richtung Leipzig und die Polizei verliert die Spur.

Kurz vor 13 Uhr erreicht der Attentäter Wiedersdorf bei Landsberg. Seine späteren Opfer Dagmar M. und Jens Z. werden sagen „Uns findet man nicht, wenn man nicht weiß, wo man hinfahren muss.“ Der Attentäter stellt sein Fahrzeug im Dorf ab. Läuft an der Garage von Kai H. vorbei. Der Attentäter hat zum ersten Mal Angst geschnappt zu werden, wird er aussagen. Jens Z. ist im Garten und sägt Holz, als jemand gegen seine Tür schlägt. 16 Kilometer ist der Attentäter vom Tatort entfernt, sein Auto hat einen Platten und darum schreit er dem Mann im Garten entgegen: „Gib mir dein Auto! Gib mir die Schlüssel!“ Jens erzählt, er hatte den Schlüssel nicht dabei. Er versucht zu flüchten. Der Attentäter schießt ihm in den Nacken. Dagmar hört den Schuss: „Ich dachte, es ist etwas mit Jens‘ Kettensäge,“ erzählt sie. Sie sieht ihren Freund blutüberströmt. Sie hört nur noch einen Knall und fällt auf die quadratischen Steinplatten ihres Gartenweges. Jens muss zusehen wie der Täter erneut die Waffe auf seine Freundin richtet. Er drückt ab. Nichts passiert. Die Waffe nun auf Jens Z. gerichtet, sucht der Attentäter nach Munition. Als er merkt, dass ihm diese ausgegangen ist, wirft er den Patronengürtel in die Pflanzen und flieht. Für Dagmar M. und Jens Z. beginnt nach ihren Worten eine neue Zeitrechnung.

Kai H. aus Halle hat seit einigen Jahren eine Werkstatt in Wiedersdorf. Kunde ist auch sein Freund, Taxifahrer Daniel W. aus Halle. Heute ist er mit zwei Autos zum Wechseln der Winterreifen da, als Kai einen Knall hört. Er sieht jemanden auf das Grundstück seiner Nachbarn gehen. Vielleicht ist jemand von der Leiter gefallen und es wird schon geholfen, denkt er. Er schraubt weiter an seinen Autos. Kurze Zeit später steht der Attentäter in der Tür. „Ich gehe einem Mann entgegen, der offensichtlich verletzt in einer Jagduniform in meinem Laden steht. Weil ich selbst Jäger bin, denke ich: Verdammt, ein Jagdunfall. Noch die Waffe in der Hand, den muss ich jetzt wohl ins Krankenhaus fahren.“ Aber der Attentäter spricht Kai H. an: „Ich bin ein bekannter Schwerverbrecher. Ich habe da drüben (zeigt auf das Haus von Dagmar M. und Jens Z.) gerade zwei Menschen erschossen, weil die mir ihr Auto nicht geben wollten. Ich brauche ein Auto.“ Kai H. spricht seinen Freund, den Taxifahrer, die Lage begreifend an: „Gib ihm den Schlüssel“. Der jedoch hat den Ernst der Lage noch nicht erkannt und sagt: „Du nimmst aber den alten Wagen.“ Und gibt ihm den Schlüssel. Er wird später sagen, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass Taxifahrern von Betrunkenen der Wagen entwendet wird. Meist würden diese schnell wieder zurückgegeben. Der Attentäter bittet die beiden Anwesenden noch: „Ich weiß, ihr werdet die Polizei rufen, bitte gebt mir noch zehn Minuten Zeit.“ Dann flüchtet der Täter mit der erbeuteten Taxe. Zurück lässt er zwei 50 Euro-Scheine, die er auf die Straße wirft.

Der Werkstattinhaber Kai H. schaltet schnell. Er setzt um 13.03 Uhr einen Notruf über die 112 ab. Das war keine Leiter, das war ein Schuss, den er zuvor gehört hatte. Er hechtet zu seinen Nachbarn, „ich habe nur noch funktioniert.“ Das Tor ist verschlossen, Jens Z. konnte sich einschließen. Kai Z. wird aufgemacht, er sieht den Mann, der mit einem Tuch am Hals auf die Wunde am Hals drückt, die Frau steht im Garten, die Hose voller Blut. Noch vor der Polizei ist ein Journalist da. Mit einem Freund schützt er seine Nachbarn vor den Blicken des Fotografen, in diesem Moment trifft ein Polizist ein. Kai H. sagt: „Ein älterer Mann, der bald in Rente geht, hat er mir später erzählt.“ Der schreit in Panik Dagmar und Jens an, sie sollen sich hinlegen. Kai versucht die Lage zu beruhigen. Ein Hubschrauber und ein Rettungswagen kommen und bringen die Schwerverletzten ins Krankenhaus.

Taxifahrer Daniel W. versucht in der Zwischenzeit sein Taxi zu orten. Es wird sich herausstellen, dass der Attentäter das Telefon aus dem Fenster geworfen hat, mit dem die Taxifahrer Fahrten abstimmen. „Ich fahre dem hinterher,“ sagt er Kai H. Und setzt sich in sein Taxi. Er kann den Attentäter einholen, denn dieser fährt hinter einem LKW oder Traktor hinterher, den er nicht überholen kann, erinnert sich der Taxifahrer. Auf dem Weg sieht der Taxifahrer eine Streife, die am Straßenrand postiert ist. Daniel B. spricht die Beamten an. „Da vorn, da fährt die gestohlene Taxe. Ich bin der Besitzer.“ Die Beamten verstehen nichts und fragen den Taxifahrer aus. Wertvolle Minuten verstreichen. Als die Beamten verstehen, ist der Attentäter weg.

Jetzt kommt Daniel W. eine Idee. Seine Taxe hat ein Notrufsystem, wie es seit 2018 Pflicht in jedem Neuwagen ist. Eine Mobilfunkkarte ist fest verbaut. Über einen Knopf kann ein Notruf gewählt werden, ohne dass der Fahrer ein Telefon braucht. Er ruft seinen Händler an - einen Freund, den er überredet, das Signal orten zu lassen. Mit diesen Informationen versorgt er die Polizei.

Um 13.16. Uhr sieht eine Streife das gestohlene Taxi auf der A9 in Richtung München. Die Beamten können jedoch nichts tun, sie sind in der Gegenrichtung unterwegs. Erst 14 Minuten später endet die Jagd auf der Bundesstraße 91 in Richtung Zeitz. Ein Streifenwagen hat das Taxi entdeckt und verfolgt es. Der Attentäter rammt ein Auto, brettert über eine rote Ampel und rast über die einspurige, enge Baustellenfahrbahn. Ein roter LKW kommt ihm beim Überholen entgegen. Betonleitplanken verhindern ein Ausweichen. Es kracht und der Attentäter steigt aus dem Wagen. Ein letzter Fluchtversuch. Erfolglos. Der Attentäter von Halle wird um 13.40 Uhr, 87 Minuten nach den tödlichen Schüssen auf Jana L., gefasst.

Durchsage der Polizei
17.07.2020
Durchsage der Polizei
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In der Saalestadt Halle ist die Jagd noch nicht zu Ende. Über Stunden hinweg werden Spezialeinsatzkräfte in der Stadt unterwegs sein. Die Polizei geht nicht von einem einzelnen Täter aus. Ein Fahrzeug von Journalisten wird über Stunden hinweg sichergestellt, weil man es für ein Tatfahrzeug hält. Falschmeldungen über weitere Zwischenfälle in Supermärkten, Kitas und Wohnungen durchziehen die Stadt. Häuser werden evakuiert und Straßen gesperrt. Die Leiche von Jana L. wird noch bis zum Abend auf dem kalten Boden vor der Synagoge liegen. Abdeckt mit einer blauen Plane. Den Rucksack neben ihr. Die Journalisten und Kamerateams in den Straßen ringsherum. Gegen 18 Uhr gibt die Polizei Entwarnung: Der Attentäter war ein Einzeltäter.


Der Angeklagte

Der 28-Jährige ist ein Einzelgänger. Abitur, Bundeswehr, abgebrochenes Studium der Chemie. Er lebte zuletzt bei seiner Mutter, zum Vater hat er nur losen Kontakt. Die Nachbarn beschreiben den Vater als hilfsbreit und zuvorkommend, die Mutter als nette Lehrerin. Der Sohn war unauffällig. Die Familie wohnt in Benndorf in Mansfeld-Südharz. Hier plante der Attentäter auch seine Tat. Alles niedergeschrieben in einem Manifest. Den Bau der Waffen, die Leugnung des Holocausts, den Hass auf Juden. „Wenn ich scheitere und sterbe, aber einen einzigen Juden töte, war es das wert. Denn, wenn jeder Weiße Mann nur einen tötet, gewinnen wir.” Seit dem 30. Mai sitzt der Attentäter nach einem erfolglosen Fluchtversuch aus der JVA Roter Ochse in Halle in der JVA in Burg und wartet auf seinen Prozess.

Der Prozess

Es ist der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts und trotzdem zu klein für diesen Prozess: 40 Nebenkläger mit ihren Anwälten, 44 Journalisten und 50 Personen der „interessierten Öffentlichkeit“, mehr kann die ehemalige Bibliothek des Landgerichts Magdeburg wegen Corona-Vorschriften nicht fassen. Neben Medien aus Sachsen-Anhalt und der restlichen Bundesrepublik sind Journalisten aus aller Welt bis hin zur New York Times und dem israelischen Fernsehen dabei, rund um den Globus wird der Prozess mit Spannung erwartet. Sicherheitsglas, Dolmetscherkabinen und viel Technik sind nötig. 300.000 Euro hat der Umbau des Saals gekostet, damit der 1. Strafsenat hier als Strafschutzsenat zusammenkommen kann. In einem Nebensaal wird die Verhandlung als Ton übertragen, damit weitere 44 Journalisten Platz finden. Natürlich mit Abstand und Maske. Nach dem Prozessauftakt am 21. Juli sind 17 weitere Verhandlungstage geplant. Diese muss das Gericht nicht ausschöpfen, kann auf der anderen Seite aber auch mehr Tage für die Verhandlung ansetzen. Den Vorsitz hat Ursula Mertens, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg. Nebenkläger sind unter anderem die Jüdische Gemeinde in Halle, die Besitzer des Dönerimbiss', Kai H., Dagmar M. und Jens Z.

Der Untersuchungsausschuss

Hat die Polizei ihr Möglichstes getan? Dieser Frage geht seit dem Dezember 2019 ein Untersuchungsausschuss im Magdeburger Landtag nach. Im Fokus steht die Polizeiarbeit, aber auch die Arbeit des Innenministeriums. Die Vorwürfe sind schwerwiegend: Die Beamten sollen die jüdische Gemeinde gerade am höchsten Feiertag Jom Kippur nicht ausreichend geschützt haben und zu spät am Tatort gewesen sein. Außerdem steht die Frage im Raum, wie gut der Einsatz wirklich ablief. Schon jetzt wurde bekannt, dass die Polizei keine Kenntnis vom jüdischen Feiertag Jom Kippur hatte, und auch dass Funksprüche über einen Schusswechsel nicht weitergeleitet worden sind. Weitere offene Punkte: Wie konnte es dem Attentäter gelingen, unbemerkt eine solche Menge an Waffen und Sprengstoff zu horten? Und natürlich: Wie konnte der Täter innerhalb der JVA in Halle einen Fluchtversuch starten? Der Attentäter war über einen Zaun im Freibereich geklettert und hatte sich dann frei im Gelände bewegt. Über diesen Skandal sind bereits ein Staatssekretär aus dem Justizministerium und die stellvertretende Anstaltsleiterin des Roten Ochsen in Halle gestolpert.

Die Opfer

Jana L. aus Halle war gerade einmal 40 Jahre alt, als der Attentäter sie aus dem Leben riss. Freunde beschreiben sie als lebensfroh, aufgeweckt und interessiert. Sie sammelte Autogramme, hatte Fotos mit Stefan Mross, Andrea Berg und auch Florian Silbereisen. Eine Woche vor der Tat war sie bei einer Aufzeichnung seiner Show zu Gast. Eine Woche nach ihrem Tod wurde diese Sendung ausgestrahlt. Jana L. wurde in Wolfen beigesetzt, der Heimatstadt ihrer Mutter.

Gefühle von Manuela B. (Freundin von Jana L.)
20.07.2020
Gefühle von Manuela B. (Freundin von Jana L.)
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Kevin S. aus Merseburg liebte seinen Halleschen FC: Der Fußballfan war fast bei jedem Spiel dabei und sein Fanclub „Liberata Crew Chemie Halle“ zeigte sich tief bestürzt über den Tod des 20-Jährigen. Der HFC lief beim folgenden Pokalspiel in Trauerflor auf. Auf der Trauerfeier sprachen Ministerpräsident Reiner Haseloff und der Stadionsprecher des HFC. Alles war in Rot und Weiß geschmückt. Ein letztes Geleit gab es mit Autocorso durch den Fanclub. Dieser sammelt auch Geld für Kevins Familie.

Dagmar M. arbeitete in einer Rechtsanwaltskanzlei, Jens Z. als Paketbote. 14 Tage verbrachten beide im Krankenhaus. Sie haben sich von der Attacke bis heute nicht erholt. Dagmar berichtet, dass sie kaum noch Schlaf findet und keinerlei Betreuung erfahren hat. Durch den Schuss in den Oberschenkel wurden Nerven zerstört, die Ärzte mussten eine künstliche Hüfte einsetzen. Jens Z. kann seinen Nacken nicht mehr bewegen, Autofahren ist damit unmöglich geworden. Die beiden überlebenden Opfer des Attentats von Halle haben bis heute keine Unterstützung durch den Täter-Opfer-Ausgleich erhalten. Lediglich der Weiße Ring hat sie finanziell unterstützt.

Alles vom Prozess zum Attentat in Halle

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