Der Prozess um den rechtsterroristischen Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 ging am Mittwoch (29.07.2020) in den vierten Verhandlungstag.
Heute sprachen der Schwager, eine Kollegin der Mutter, eine Grundschullehrerin und ein ehemaliger Bundeswehr-Kamerad des Angeklagten vor allem über das familiären Umfeld des Attentäters und wie sie seinen Charakter und seine Gesinnung wahrgenommen haben.
Dabei zeichnete sich ab, dass der Angeklagte sich selbst immer wieder im physischen Raum sozial von anderen isolierte und nicht daran interessiert war, Freundschaften (offline) zu pflegen. Bereits in seiner Kindheit habe er sich emotional distanziert gezeigt. In der Schule sei er immer bestrebt gewesen, der Beste zu sein, schaffte das aber nicht überall. Bei seiner Mutter habe er immer im Mittelpunkt gestanden. Später habe der Angeklagte sich anderen Menschen gegenüber aggressiv und gewaltbereit gezeigt. Er äußerte sich in der Vergangenheit bereits antisemitisch und rassistisch. Nach einer Erkrankung und einem Krankenhausaufenthalt habe sich der Angeklagte noch weiter von der Außenwelt abgekapselt, brach sein Studium ab, weigerte sich arbeiten zu gehen, zog zurück zu seiner Mutter und verbrachte dort die meiste Zeit am Computer. Welche Kontakte er online pflegte, ist bisher nicht bekannt. Seine Mutter habe immer Sorge gehabt, dass ihr Sohn nicht mehr zurück ins Leben findet und sich umbringt. Dass er einmal einen Anschlag verübt, damit hätte sie nie gerechnet.
Schwager des Angeklagten spricht als erster Zeuge vor Gericht
Der vierte Verhandlungstag beginnt mit der Befragung der Eltern und der Halbschwester des Attentäters. Alle drei machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch: Aufgrund des Verwandtschaftsgrades sind sie nicht verpflichtet, über ihren Sohn bzw. Bruder und dessen Tat zu sprechen. Auch müssen sie schriftlich keine Stellung dazu beziehen. Das heißt auch, dass die Aussagen, die sie vorher gegenüber der Polizei gemacht hatten, nicht mehr vor Gericht verwendet werden dürfen. Wie ein Zeuge später erzählt, wollte die Schwester ursprünglich vor Gericht aussagen, sei dem Druck aber nicht gewachsen.
Danach wurde der Schwager in den Zeugenstand gerufen. Mit der Schwester des Angeklagten hat er ein Kind, seit 2018 sind sie getrennt, seien aber noch befreundet. Anders als die Eltern und die Schwester des Angeklagten, hat der Mann kein Zeugnisverweigerungsrecht. Vor Gericht sprach er über das familiäre Umfeld, die Persönlichkeit und Gesinnung des Attentäters.
Dabei kam unter anderem heraus, dass der Täter sich bereits in der Vergangenheit antisemitisch und rassistisch geäußert habe und sich anderen Menschen gegenüber aggressiv und gewaltbereit zeigte. So habe der Angeklagte beispielsweise auf einer Feier einen Freund des Zeugen mit einem Messer bedroht und im Supermarkt Menschen angeschrien, wenn sie kein Deutsch sprachen.
Der Schwager beschreibt den Attentäter als Mensch, der sich selbst im physischen Raum sozial isoliert hat und lieber Zeit am Computer oder in der Werkstatt seines Vaters verbrachte. Was genau er im Internet trieb und welche Kontakte er online pflegte, habe der Schwager nicht gewusst. Der Zeuge hatte kein gutes Verhältnis zu ihm, einerseits weil er kaum Interesse zeigte, anderseits weil der Täter ihn immer wieder gehänselt habe. Nur mit seinem Sohn, also dem Neffen des Angeklagten, habe der Täter gern gespielt. Der Angeklagte wollte aber wohl nie Verantwortung für seinen Neffen übernehmen, beispielsweise indem er mal auf ihn aufpasst.
Nach einem Krankenhausaufenthalt versuchte der Vater seinen Sohn zu überreden, sich wieder Arbeit zu suchen. Das führte öfters zum Streit. So erzählte es der Schwager vor Gericht. Der Attentäter habe es nicht eingesehen, für diesen Staat zu arbeiten. Wenn die Mutter sich über ihre Arbeit beschwert hatte, habe der Sohn auf sie geschimpft - sie solle sich wieder einkriegen.
Vom Anschlag (Tattag) hatte der Schwager erst abends erfahren. Als er daraufhin bei seiner Ex-Freundin anrief, war die Mutter bereits wegen eines Suizidversuchs mit Tabletten und Alkohol im Krankenhaus. Über den Inhalt des Abschiedsbriefes der Mutter und die Situation allgemein war er sehr schockiert. Auch seine Ex-Freundin, also die Schwester des Angeklagten, sei an dem Tag komplett baff gewesen. Sie habe sich dem Zeugen gegenüber geäußert, dass sie auf ihren Bruder sauer ist, ihn verurteilt und die Tat nicht verstehen könne. Einmal habe sie ihren Bruder im Gefängnis besucht, was nicht nochmal vorkommen werde. Sie könne den Anblick ihres Bruders nicht mehr ertragen. Der Schwager selbst wisse bis heute nicht, wie er über die Tat sprechen soll. Der Schwager gibt zu, selbst in der rechten Szene unterwegs gewesen zu sein. Er hätte nie gedacht, dass so etwas hätte passieren können. Seit dem Attentat sei die Familie kaputt und schweige darüber, was passiert ist.
Eine Nebenklägerin, die sich während des Anschlags in der Synagoge in Halle befand, befragte den Schwager des Angeklagten. Sie wollte wissen, wie er seinem Kind das Attentat und die Taten seines Onkels einmal erklären will: „Das ist eine Frage, die ich mir selbst jeden Tag noch stelle.“ Eine Antwort darauf habe er bisher nicht - auch nicht, wie er seinen Sohn davon abhalten wolle, einmal selbst so zu werden wie der Angeklagte.
Kollegin der Mutter spricht vor Gericht
Eine Grundschullehrerin und Kollegin der Mutter wurde nach dem Schwager als Zeugin befragt. Die Mutter des Angeklagten war Lehrerin für Deutsch, Ethik, Kunst und Mathe an einer Grundschule. Die Kollegin gibt an, keine Freundin der Mutter zu sein, ist aber mit ihr in den Urlaub gefahren und sie haben gemeinsam Wandertage und Feste organisiert. Die Zeugin war aber nie Lehrerin des Sohnes bzw. hat diesen nie unterrichtet.
Die Kollegin der Mutter erzählt, dass der Angeklagte aufgeweckt gewesen sei und sich für vieles interessiert habe. Er sei als Vorschulkind Gleichaltrigen voraus gewesen. Der Täter habe aber wenig Umgang außerhalb der Familie gehabt. Allgemein sei die Familie in sich geschlossen und "sich selbst genug" gewesen. Der Angeklagte sei ihr nie negativ aufgefallen, aber immer als Einzelgänger. Die Mutter sei sehr stolz auf ihren Sohn gewesen und er war der Mittelpunkt der Familie. Die Mutter hielt ihren Sohn für hochbegabt.
Die Zeugin gibt an, dass die Krankheit den Angeklagten verändert habe. Die Mutter hatte große Angst, dass ihr Sohn stirbt, weil die Ärzte wohl erst keine Ursache ausmachen konnten und deshalb dachten, er simuliere. Schließlich kam es doch zur OP. Die Lehrerin hat der Mutter ins Gewissen gesprochen: Sie solle sich um den Sohn kümmern, das er wieder unter Leute kommt. Als das nichts half, hat sie ihr geraten, den Jungen aus dem Haus zu werfen, damit er sich wieder aufrafft. Die Mutter habe aber gesagt, dass er sich dann das Leben genommen hätte. Danach habe es einen Bruch in der Beziehung zwischen Mutter und Kollegien gegeben.
Nachdem die Mutter am 09. Oktober 2019 versuchte, sich das Leben mit Alkohol und Tabletten zu nehmen, habe die Kollegin sie im Krankenhaus besucht. Die Mutter habe sich von ihrem Sohn belogen, betrogen und verraten gefühlt. Die Aussagen im Abschiedsbrief der Mutter irritieren die Zeugin. Wenn sie ihre Kollegin nicht kennen würde, würde sie den Inhalt auch als rassistisch einstufen. Die Kollegen habe in den letzten 20 Jahren weder rassistische, noch antisemitische Äußerungen oder Handlungen von der Mutter wahrgenommen.
Grundschullehrerin und Ex-Kamerad des Täters sagen aus
Die Grundschullehrerin des Täters, die diesen von 1998 bis 2002 unterrichtete, sprach über sein Auftreten in der Schule. Er sei immer bestrebt gewesen, der Beste zu sein, schaffte das aber nicht in jedem Fach. Für die Zeugin war der Angeklagte damals ein ganz normaler Schüler, der sich sehr für Tiere interessiert hat. Entgegen der Aussage der Kollegin zuvor, habe sie den Angeklagten bereits in der Grundschule als introvertiert statt aufgeweckt wahrgenommen. Emotionale Nähe ließ er nie zu, war auch körperlich distanziert und mochte es beispielsweise nicht, in den Arm genommen zu werden. Der Angeklagte habe bereits in der Grundschulzeit kaum bis keine Freunde gehabt. In Konflikten habe er sich eher verbal gewehrt.
Mit "Händen und Füßen" hingegen habe sich der Angeklagte dann bei der Bundeswehr gegen zwischenzeitliches Mobbing gewehrt. So erzählt es ein ehemaliger Kamerad, der mit dem Angeklagten für einige Monate mit zwei weiteren eine Stube bezog. Stationiert waren sie gemeinsam in Hagenow (Mecklenburg-Vorpommern). Der Täter habe öfter Stress mit den anderen Kameraden auf Stube gehabt, unter anderem weil der Angeklagte öfters die Nachtruhe störte. Der Zeuge erinnere sich, dass der Angeklagte bei der Bundeswehr „Jude“ als Schimpfwort benutzt hatte. Laut Zeuge sei das in diesem Umfeld aber nicht selten gewesen.
Fünfter Verhandlungstag findet am Montag, 03. August statt
Am kommenden Montag wird der Prozess um den Attentäter von Halle fortgesetzt.
Der Angeklagte hatte bereits zu Prozessbeginn gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, in der Synagoge von Halle ein Massaker anzurichten. In dem Gotteshaus feierten zu dem Zeitpunkt 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Dem Angeklagten gelang es jedoch nicht, in die Synagoge zu gelangen. Daraufhin erschoss er vor der Synagoge eine zufällig vorbeikommende 40-Jährige und später einen 20-Jährigen in einem Dönerimbiss. Der Attentäter filmte seine Tat und übertrug das Video live ins Internet.
Für das international beachtete Verfahren hat das Gericht zunächst 18 Verhandlungstage bis Mitte Oktober 2020 angesetzt. In der 121-seitigen Anklageschrift werfen die Bundesanwaltschaft und die 45 Nebenkläger dem 28-Jährigen unter anderem Mord und versuchten Mord vor. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung.