03. Dezember 2024 – dpa Nachrichten
Die Mädchen und Frauen werden an einem freien Leben gehindert, erleiden körperliche und psychische Gewalt. Inzwischen suchen mehr Betroffene von Zwangsverheiratung und ehrbezogener Gewalt Hilfe.
In Sachsen-Anhalt suchen mehr Betroffene von Zwangsverheiratung und Menschenhandel Hilfe. Nach mehreren Jahren mit jeweils etwa 40 bis 60 Fällen stieg die Zahl der Hilfesuchenden 2022 auf knapp 80 und im vergangenen Jahr auf 120. «In diesem Jahr wird die Zahl ähnlich hoch, voraussichtlich sogar etwas höher», sagte die Leiterin der AWO-Beratungsstellen in Sachsen-Anhalt, Yvonne Joachim.
Die Fachstelle Vera bietet von Zwangsverheiratung, ehrbezogener Gewalt oder Menschenhandel betroffenen Mädchen und Frauen Sachsen-Anhalt-weit mehrsprachig Beratung, Begleitung und Unterstützung an. Das Angebot reicht bis zu Schutzwohnungen. Viele Begleitungen erstrecken sich über einen längeren Zeitraum.
Dass die Fallzahlen deutlich gestiegen sind, könnte Yvonne Joachim zufolge zum einen daran liegen, dass die Informationen zu Hilfsangeboten die Betroffenen inzwischen besser erreichen. Beratungsstellen, Frauenhäuser, die Polizei, Schulsozialarbeiter und auch Behörden vom Jugendamt bis zum Jobcenter vermittelten zur Fachstelle Vera. «Die Sensibilität ist gewachsen.»
Gefahr der Eskalation mitdenken
Die Fachstelle Vera bietet Fachkräfteschulungen etwa bei der Polizei an, damit die Beamten wissen, wie sie reagieren, wenn sie etwa von einer 17-Jährigen angerufen werden, die zu Hause eingesperrt ist, weil sie am nächsten Morgen ins Ausland fliegen soll, um zwangsverheiratet zu werden. Getrennte Befragung von der Familie, Telefondolmetschung und Betreuung durch weibliche Beamte seien unter anderem entscheidend dafür, ob die Mädchen sich öffneten, sagte Yvonne Joachim. Es bestehe immer die Gefahr, dass die Situation der Mädchen und Frauen eskaliere.
Über ein Drittel der Hilfesuchenden im Jahr 2023 sei in der Altersgruppe 11 bis 25 Jahre gewesen. Die Fachstelle unterstützte ebenso ältere Frauen mit längst erwachsenen Kindern dabei, sich aus ihrem gewalttätigen Umfeld zu lösen. Die Klientinnen stammten aus 35 verschiedenen Herkunftsländern, am häufigsten aus Syrien, Deutschland, Afghanistan und Kamerun.
Hochrisikofälle mit Gefahr für Leib und Leben
Im Jahr 2023 galten neun Klientinnen und ihre Kinder als sogenannte Hochrisikofälle. Das bedeutet, dass eine konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht und besondere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Sogenannte Fallkonferenzen mit den Opferschutzbeauftragten der Polizei, Vertretern von Ämtern und Behörden und eben auch der Fachstelle Vera kämen manchmal binnen zwei Tagen zustande, sagte Yvonne Joachim. Da gelinge es schnell, Hilfe auf den Weg zu bringen. Das könne etwa die Aufnahme in ein anonymes Wohnprojekt oder ein Umzug in ein anderes Bundesland sein.
Hoffnung auf erweiterte Hilfemöglichkeiten
Auch wenn sich die Hilfemöglichkeiten in den vergangenen Jahren erweitert haben, setzt Yvonne Joachim auf weitere Verbesserungen. Dazu gehöre der sogenannte operative Opferschutz, «die kleine Schwester des Zeugenschutzes». Die Voraussetzungen seien dabei nicht ganz so eng, Voraussetzung sei eine hohe Gefährdung von Leib und Leben der Betroffenen. Eine Gesetzesänderung wäre hilfreich, Betroffene mit auf ihre spezielle Situation abgestimmten Unterstützungsmaßnahmen zu helfen, die heute nur schwer und langwierig umzusetzen sind. «Darauf hoffen wir», sagte Yvonne Joachim mit Blick auf die Gesetzesänderung.
Die Fachstelle Vera bietet Schulungen für Menschen, die aufgrund ihrer professionellen Tätigkeit in Behörden und anderen Organisationen Kontakt zu Betroffenen haben könnten. Die Fachstelle Vera, die es seit dem Jahr 2000 mit gewachsenem Spektrum gibt, wird vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt gefördert.